Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist unbestrittenermassen von gesellschaftspolitischer Relevanz. Das Wissen um die Herkunft und die historisch bedingte und geprägte Entwicklung unserer Gesellschaft kann zweifellos zur Förderung identitätsstiftender Elemente nach innen wie nach aussen beitragen, sei es auf lokaler, regionaler oder staatlicher Ebene. Nur eine auf möglichst umfassender Quellengrundlage beruhende Geschichtsforschung bietet indessen Gewähr, dass keine schiefen, nur auf Behauptungen und Mutmassungen fussenden Geschichtsbilder vermittelt werden. Das LUB stellt mit seiner Quellenpublikation der Geschichtsforschung einen jederzeit überprüfbaren Erkenntnis-Rohstoff zur Verfügung und ermöglicht damit die notwendige Auseinandersetzung auch mit der ferneren Vergangenheit dieses Landes und seiner Bewohner.
Mit dem Erscheinen des 6. Bandes des ersten Teils des Liechtensteinischen Urkundenbuchs im Jahre 1997 konnten der Forschung die Quellen, die das heutige liechtensteinische Staatsgebiet betreffen, bis zum Jahre 1416, dem Todesjahr des Churer Bischofs Hartmann IV. von Werdenberg-Sargans-Vaduz, zur Verfügung gestellt werden. Damit wurde eine erste Etappe auf dem Weg zur "tunlichst vollständige(n) Sammlung beziehungsweise Veröffentlichung aller noch vorhandenen, das Land und die Gemeinden betreffenden wichtigeren Urkunden von den ältesten Zeiten an" - so ein Zweck des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein gemäss den Statuten von 1950 - erfolgreich abgeschlossen. Die in diesen 6 Bänden edierten schriftlichen Zeugnisse aus schweizerischen (Bde. 1-2, bearb. v. Franz Perret, Bd. 6, bearb. v. Otto P. Clavadetscher), österreichischen (Bd. 3, bearb. v. Benedikt Bilgeri), liechtensteinischen (Bd. 4, bearb. v. Georg Malin) und deutschen Archiven (Bde. 5A/B, bearb. v. Benedikt Bilgeri) bilden gleichsam das Rückgrat liechtensteinischer Geschichtsforschung für das Mittelalter bis zum Jahre 1416.
Am 17. September 1997 gewährte der Liechtensteinische Landtag für die Fortführung des Liechtensteinischen Urkundenbuchs einen Verpflichtungskredit für einen Zeitraum von sechseinhalb Jahren. Ziel des zweiten Teils des Urkundenbuchs (LUB II) ist die Edition der in in- und ausländischen Archiven nachgewiesenen Quellen für die Jahre von 1417 bis 1510. Dieser Zeitraum entspricht der Herrschaftszeit der Freiherren von Brandis in der Grafschaft Vaduz und in der Herrschaft Schellenberg (dem heutigen Fürstentum Liechtenstein). Die Freiherren von Brandis, ein ursprünglich aus dem Raum Bern stammendes Adelsgeschlecht, konnten ab dem späten 14. Jahrhundert mit der Grafschaft Vaduz, Teilen des Eschnerbergs und der Herrschaft Blumenegg (Vorarlberg, A) einen Grossteil der Besitzungen der Grafen von Werdenberg-Sargans-Vaduz übernehmen. Nach dem Tod von Graf Hartmann IV. von Werdenberg-Sargans-Vaduz im Jahr 1416, dem letzten Vertreter der Vaduzer Linie der Werdenberger, verlagerten die Freiherren von Brandis ihren Herrschaftsmittelpunkt nach Vaduz und begannen damit, ihre Berner Besitzungen zu verkaufen. Mit den aus diesen Verkäufen gelösten Mitteln bauten sie ihre Position am Alpenrhein weiter aus. In einem ersten Schritt erwarben sie die ihnen noch fehlenden Herrschaftsrechte am Eschnerberg und schufen dort eine eigenständige Herrschaft, für die langsam die Bezeichnung "Herrschaft Schellenberg" üblich wurde. In einem zweiten Schritt erwarben sie die Herrschaft Maienfeld (Graubünden, CH). Nachdem 1507 mit Sigmund II. der letzte weltliche Vertreter der Freiherren von Brandis verstorben war, übernahm sein Neffe, Graf Rudolf V. von Sulz, die Herrschaft. Definitiv endete die Herrschaftszeit der Brandiser, als der Churer Dompropst Johannes von Brandis seine Rechte an der Grafschaft Vaduz und an den Herrschaften Schellenberg und Blumenegg 1510 an Rudolf von Sulz verkaufte.
Die Arbeiten am LUB II konnten Anfang 1998 mit einem Pensum von 50 Prozent beginnen. Mit den Arbeiten betraut wurde Claudius Gurt. In der ersten Arbeitsphase bearbeitete Claudius Gurt die in den liechtensteinischen Archiven liegenden relevanten Dokumente. Mit den vom Landtag auf Antrag der Regierung am 27. November 2003, am 21. Oktober 2009 und am 10. Juni 2015 genehmigten Krediten wurde die Bearbeitung der für die Geschichte Liechtensteins relevanten Quellen in ausländischen Archiven und damit die Fortführung der Arbeiten an einem für die Landesgeschichte zentralen Grundlagenforschungsprojekt ermöglicht. Nach der Pensionierung von Claudius Gurt im September 2020 übernahmen Katharina Arnegger und Stefan Frey mit einem Pensum von zusammen 100 Prozent die Bearbeitung des LUB.
Die Erarbeitung eines Urkundenbuchs ist wie jede Grundlagenwissenschaft eine langwierige Angelegenheit. Nebst der für ein solches Werk zur Verfügung stehenden Arbeitszeit sind es hauptsächlich zwei Umstände, die solch "ungebührlich" lange Vorlaufzeiten bedingen: die Abgrenzungsproblematik und der Anspruch auf Vollständigkeit. Beides trifft für das Liechtensteinische Urkundenbuch in besonderem Masse zu. So wird es gerade für das Spätmittelalter immer schwieriger und zeitraubender, die für das zu berücksichtigende Staatsgebiet des heutigen Fürstentums Liechtenstein relevanten Quellen zu ermitteln und den unabdingbaren Anspruch auf möglichste Vollständigkeit einzulösen. Der Geschichtsforscher dagegen ist für seine Arbeit auf eine möglichst rasche Publikation dieser Quellen angewiesen, denn für ihn kann jedes zur Verfügung gestellte Dokument entscheidenden Erkenntnisgewinn bedeuten. Eine elektronische Publikation des zweiten Teils des LUB in Form einer sogenannten "rollenden Edition" ist daher naheliegend, können dadurch doch die Bedürfnisse der Quellenbearbeitung und der Quellenbenutzung optimal befriedigt werden.
Die heutigen Grenzen des liechtensteinischen Staates sind ein Ergebnis der wechselvollen Geschichte eines Gebietes, in dem seit dem 14. Jahrhundert die Herrschaftsorganisationen verschiedener Adelsgeschlechter wichtige Bausteine zu einer späteren Staatlichkeit beitrugen. Im 15. Jahrhundert ist zudem grundsätzlich von mehreren Optionen auszugehen, die einen geeigneten allgemeinen Rahmen für die staatliche Verfestigung hätten bilden können. Ein LUB, das diesem Umstand Rechnung trägt und tragen muss, kann und darf sich nicht auf die Publikation des innerhalb der engen Landesgrenzen überlieferten Quellenbestandes beschränken. Allein der nachweisbare grosse eigene Quellenverlust zwingt zur Überwindung einer auf das heutige Staatsgebiet eingeschränkten Quellenoptik und rechtfertigt auch den Einbezug des in ausländischen Archiven liegenden, für Liechtenstein relevanten Quellenmaterials in das LUB.
Nebst der Verortung des LUB in räumlicher Hinsicht gilt es auch dessen zeitliche Dimension zu berücksichtigen. Mit der Edition der Schriftdokumente für die bis 1510 dauernde Herrschaftszeit der Freiherren von Brandis wird das LUB zwar ein weiteres wichtiges Etappenziel erreichen, aber noch längst nicht am Endziel angelangt sein. So harren die umfangreichen Quellenbestände über die Herrschaftszeit der Grafen von Sulz (1511-1613) und der Grafen von Hohenems (1614-1699/1712) ihrer Veröffentlichung. Erst auf der Grundlage dieses Quellenmaterials wird eine angemessene Darstellung über die Geschichte des sogenannten glücklichen sulzischen beziehungsweise unglücklichen hohenemsischen Jahrhunderts geleistet werden können. Schliesslich – allerdings wohl als Ausblick in die fernere Zukunft des LUB – werden dereinst die wichtigen Schriftzeugnisse zur Landesgeschichte unter dem liechtensteinischen Fürstenhause in angemessenem Rahmen im LUB zu berücksichtigen sein.
Das Liechtensteinische Urkundenbuch durfte seit seinen ins Jahr 1934 zurückreichenden Anfängen – damals beschloss der Landtag auf Antrag des Landtagsabgeordneten Wilhelm Beck einen Beitrag von Fr. 750 für die Publikation der wichtigen alten Akten zur Verfügung zu stellen – immer wieder auf die einem solchen Grundlagenwerk von staatspolitischer Bedeutung angemessene, wohlwollende finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand zählen; Landtag und Regierung des Fürstentums Liechtenstein gebührt daher für die stets verständnisvolle Förderung der erste Dank.
Als Projekt des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein konnte sich das LUB aber auch immer wieder auf die tatkräftige Unterstützung der jeweiligen Vereinsvorstände und ihrer Vorsitzenden verlassen. Für ihren unermüdlichen Einsatz sei an dieser Stelle namentlich den Vereinsvorsitzenden Dr. Alois Ospelt (1986-1996), Dr. Rupert Quaderer (1996-2005), Eva Pepić (2005-2011), Aldina Sievers-Nutt (2011-2012) und Guido Wolfinger (seit 2012) sowie der amtierenden Geschäftsführerin Cornelia Kranz-Bühler herzlich gedankt.
Seit dem Beginn der LUB II Projektphase 1998 darf das LUB die grosszügige Gastfreundschaft des Liechtensteinischen Landesarchivs in Anspruch nehmen, wo dem LUB nicht nur die notwendige Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird, sondern den Bearbeitenden auch die fachliche Kompetenz der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen stets hilfreich zur Seite steht. Dafür gebührt den Verantwortlichen ein grosses Dankeschön.